Die Transformation der Industrie kann nur durch die Dekarbonisierung ihrer Fertigungsprozesse gelingen. Das erfordert Lösungen, die nicht nur zur Klimaneutralität führen, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit erhalten.
Der Stahlrohrhersteller und Autozulieferer Benteler kennt die Problematik nur zu gut: Schon seit längerem beschäftigt sich das Familienunternehmen mit dem Thema nachhaltige Produktion und hat eigene Klimaziele definiert. Dem gegenüber stehen die Fertigungsprozesse, die noch durch fossile Energieträger versorgt werden. Das Paderborner Unternehmen steht beispielhaft für viele andere Industriebetriebe, die die Herausforderung Dekarbonisierung angehen müssen. Benteler kooperiert dabei mit dem Kompetenzzentrum nachhaltige Energietechnik (KET) an der Universität Paderborn, um gemeinsam Lösungen für eine ganzheitliche Energiewende in der Industrie zu entwickeln. Anfang Juni sind die Partner auf der Woche der Umwelt in Berlin, um über den Stand ihrer Arbeit zu informieren.
Die Voraussetzungen in Ostwestfalen-Lippe für Klimaschutz sind gut: Die Verfügbarkeit Erneuerbarer Energie ist gegeben. Insbesondere im Raum Paderborn wird eine beachtliche Menge Windenergie produziert, auch auf die Kraft der Sonne will man künftig noch stärker setzen und den Ausbau von Photovoltaik weiter vorantreiben.
„Die Frage ist jedoch, wie diese zu den Betrieben gelangt, wie diese damit – auch angesichts ihres fluktuierenden Auftretens – wirtschaftlich produzieren können“, beschreibt Henning Meschede die Problematik.
Prof. Henning Meschede forscht an der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik zu Sektorenkopplung und Energieeffizienz.
Foto: Annika Kortümm
Der Professor forscht an der Universität Paderborn an der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik. Sein Fachgebiet Energiesystemtechnik ist Teil des KET an der Paderborner Universität, dem fünf weitere Lehrstühle und Fachgebiete angehören. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen sektorenübergreifende Konzepte, Anlagen und Komponenten, um die Energiewende im Strom-, Wärme-, Industrie- und Mobilitätssektor zu verwirklichen. Dabei denken sie die Energietechnik
ganzheitlich über die Bereiche Energiebedarf, Energienachfrage, Energietransport und -verteilung sowie Energiebereitstellung hinweg.
Sektorenkopplung ist der Schlüssel zur Energiewende
„Energieeffizienz, Sektorenkopplung sowie Speicher- und Lastmanagement sind für uns die Mittel, um Erneuerbare Energien flächendeckend in alle Sektoren zu integrieren. Unsere Lösungsansätze orientieren sich dabei an den lokalen Gegebenheiten im Kontext überregionaler und globaler Energiesysteme“, so Professor Meschede, der in der Sektorenkopplung den Schlüssel zur Energiewende sieht. Denn die Nutzung von Photovoltaik und Wind sei mit sehr geringen Emissionen
verbunden. Im Wesentlichen verursache nur das verbaute Material noch geringe
Treibhausgasemissionen über die gesamte Lebensdauer.
Doch wie gelangt die Energie in die verschiedenen Sektoren, wie lassen sich Strom, Wärme, Industrie und Verkehr miteinander verknüpfen? Insbesondere die Kopplung mit der Industrie ist dabei aufgrund der vielen unterschiedlichen Anforderungen komplex. „Die Betriebe stehen vor verschiedenen Herausforderungen, weil hier unterschiedliche Temperaturniveaus eine einfache Umsetzung verhindern. Neben brach liegendem Potenzial für Effizienzsteigerung und
Wärmerückgewinnungen hat die Verwendung von Wärmepumpe im Niedrigtemperaturbereich
Effizienzvorteile. Das ist im Übrigen keine neue Technologie. Abhängig von den konkreten Voraussetzungen vor Ort ist das wirtschaftlich auch schon umsetzbar. Insbesondere, wenn der Gaspreis steigt, wie es langfristig der Fall ist“, betont Professor Meschede. Auch könne eine direkte Elektrifizierung bei hohen Temperaturen ein Weg sein. Die Verwendung von Wasserstoff sei eine weitere Option. Für die hier notwendige Elektrolyse wird allerdings Strom gebraucht. Der Paderborner Wissenschaftler rechnet nicht damit, dass sich die Nutzung von Wasserstoff in der Industrie schnell umsetzen lässt.
„Wir stehen noch ganz am Anfang. Der Einsatz von Wasserstoff ist teuer und damit nach wie vor eine Kostenfrage. Solange sich hier nichts ändert, wird die Thematik nur bedingt von Bedeutung sein“, so Meschede.
Die Diskussionen über den Einsatz von Wasserstoff in der industriellen Anwendung sind nicht neu. Vor einigen Jahren ging man davon aus, dass der Ersatz von Erdgas durch Wasserstoff das Problem löst und man weitermachen könne wie bisher. Professor Meschede sieht das anders: „Ich gehe nicht davon aus, dass dieser Denkansatz Realität wird. Schon allein wegen der Kosten. Dennoch wird dieser Energieträger in der Industrie zur Nutzung gelangen, wenn es um hohe Temperaturbereiche geht. Wo es sinnvolle Alternativen im Temperaturbereich bis 200 °C gibt, wird er eher eine Nebenrolle spielen.“ Grundsätzlich sei es immer eine Frage der Abwägung und der jeweiligen Anforderungen an den Prozess, ob es aus ökonomischer Sicht vertretbar ist, bestimmte Energieträger zu nutzen. Professor Meschede und seine Kolleginnen und Kollegen treiben diese Fragestellungen bei ihrer Forschungsarbeit um. Der Transfer ihrer Erkenntnisse in die Industrie ist ihnen ein wichtiges Anliegen. Und das mit Erfolg: In den letzten Jahren sind zahlreiche Kontakte zu den regionalen Unternehmen entstanden, aus denen gemeinsame Projekte hervorgegangen sind. Das zu Beginn dieses Jahres gestartete Verbundprojekt „HeatTransPlan“ steht beispielhaft für den Transfer aus der Hochschule in die Wirtschaft, dessen Ziel es ist, industrielle Unternehmen auf dem Weg zur klimaneutralen Prozesswärme zu unterstützen. Denn zunehmende Nachhaltigkeitsanforderungen sowie steigende Energiekosten veranlassen Unternehmen, den CO2-Ausstoß von Prozesswärme zu verringern. Ein bislang kaum genutztes Potenzial zur Reduktion von Treibhausgasemissionen liegt in der Abwärmenutzung durch Wärmerückgewinnung und Wärmepumpen. Mangelndes Wissen über sinnvolle Anwendungen und optimale Integrationspunkte, fehlende Speicherlösungen für die unterbrechungsfreie Bereitstellung von Wärme über 100 Grad Celsius, ein hoher Datenerfassungsaufwand sowie Bedenken hinsichtlich der Prozesssicherheit
verhindern jedoch eine großflächige Umsetzung der Abwärmenutzung.
„Dieses Projekt zeigt sehr schön, wie wir unsere Forschungsergebnisse in die Umsetzung bringen können und gemeinsam mit Partnern aus der Industrie an konkreten Lösungen für die Praxis arbeiten“, sagt Meschede.
Die Transformation der industriellen Wärmeversorgung könne nur durch eine ganzheitliche Betrachtung gelingen. Kenntnisse über die spezifischen Prozessanforderungen und Methoden zur Identifikation von Maßnahmen zur Abwärmenutzung bilden die Grundlage für zielgerichtete Lösungsansätze. Dafür seien interdisziplinäre Teams notwendig, die die Produktionsprozesse verstehen, und darauf aufbauend Wärmepumpen und Speicher maßgeschneidert auslegen könnten, so Meschede. Henning Hanisch ist Senior Process Technology Manager von der Eckes-Granini Group GmbH und assoziierter Projektpartner. Die Dekarbonisierung der Prozesswärmeversorgung ist ein strategisches Ziel: „Obwohl wir die Potenziale von Wärmepumpen zur Nutzung von Abwärme erkennen, hat die Gewährleistung unserer Versorgungssicherheit und Produktqualität für uns oberste Priorität.“
Hanisch hat klare Vorstellungen von „HeatTransPlan“:
„Wir erwarten innovative und robuste Lösungen, die diesen Anforderungen gerecht werden und gleichzeitig auf unsere Umweltziele einzahlen.”
Dazu bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes zur Erfassung und Bewertung des Wärme und Kältebedarfs sowie zur Identifizierung und Priorisierung von Wärme- rückgewinnungsmaßnahmen. Zusätzlich ist die technologische Weiterentwicklung von
Wärmepumpen- und Speichermodulen für eine unterbrechungsfreie Versorgung mit Prozesswärme über 100 Grad Celsius erforderlich. Das erste Projektziel zur Erhöhung der Versorgungssicherheit ist die Entwicklung und Erprobung eines Hochtemperatur-Phasenwechselspeichers.
Weitere Herausforderung ist die Entwicklung und Erprobung eines digitalen
Entscheidungsunterstützungssystems, das auf Basis von Energie- und Produktionsdaten mithilfe von Process Mining und Optimierung den Energiebedarf identifiziert und einen optimalen Wärmenutzungspfad ermittelt. „Hier ist auch die Expertise von Kolleginnen und Kollegen anderer Lehrstühle notwendig, denn nicht alle Fragestellungen lassen sich mithilfe der Energietechnik lösen“, sagt Wissenschaftler Meschede. Denn ohne digitale Lösungsansätze ist die Transformation der Industrie zur Klimaneutralität nun einmal nicht umzusetzen.