Wie stellt sich das 1888 gegründete Familienunternehmen Hettich, weltweit größter Hersteller von Möbelbeschlägen, dem Wandel? Im Interview erklären Jana Schönfeld und Lars Bohlmann als Vertreter des „Hettich-Many-to-Many-Management-Teams“, wie sie sich konsequent transformieren, um das Unternehmen in die sechste und siebte Generation zu führen.
Gerade in schwierigen und von Umbrüchen geprägten Zeiten versuchen sich viele Unternehmen zu transformieren, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Welche Ziele haben Sie sich gesetzt, um Ihr Unternehmen zukunfts- und wettbewerbsfähig zu halten?
Jana Schönfeld: Unser oberstes Ziel ist die Sicherung unseres Generationenwerks. Hettich ist ein Familienunternehmen mit mehr als 135 Jahren Geschichte. Wir denken nicht in Quartalen, sondern in Generationen und wollen Hettich stabil und zukunftsfähig an die nächste Generation weitergeben. Dafür setzen wir konsequent auf nachhaltiges Wirtschaften, bauen auf unsere Innovationskraft und passen unsere Strukturen und unser Miteinander regelmäßig an die veränderten Marktbedingungen an. So stellen wir sicher, dass Hettich langfristig stabil und wettbewerbsfähig bleibt.
Jana Schönfeld: Baubranche und Möbelindustrie stecken seit Mitte 2022 in einer Nachfragekrise, hinzu kommen hohe Energie- und Rohstoffkosten sowie ein intensiver internationaler Wettbewerb – vor allem aus Asien. Diese Faktoren erhöhen den Druck, eröffnen uns zugleich die Chance, unsere Stärken klarer herauszustellen. Was uns in Europa zusätzlich fordert, ist die Gefahr der Überregulierung: Viele Maßnahmen sind gut gemeint, jedoch nicht zu Ende gedacht – und schwächen unsere Wettbewerbsfähigkeit im globalen Vergleich. Dies betrifft zum Beispiel die CO₂-Abgaben: Der europäische CO₂-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) soll eigentlich für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen, indem er Importe von Rohstoffen wie Stahl mit einem CO₂-Aufschlag versieht. Fertige Produkte mit hohem Stahlanteil – etwa Möbelbeschläge – sind davon jedoch bislang ausgenommen. Für uns bedeutet das: Wir kaufen teurer ein, während Wettbewerber aus Nicht-EU-Ländern ihre fertigen Produkte ohne Aufschlag in die EU liefern können. Damit entsteht genau das Gegenteil des eigentlichen Ziels: ein Wettbewerbsnachteil für europäische Hersteller und am Ende sogar höhere weltweite Emissionen. Die größte Herausforderung liegt deshalb in der Anpassung an eine Weltwirtschaft, die von Unsicherheiten geprägt ist. Wir müssen unsere Strukturen immer wieder überprüfen und zukunftsfähig aufstellen.
„Veränderungen begreifen wir als Chance, unser Unternehmen neu auszurichten und für die Zukunft fit zu machen.“
Wie wollen Sie Ihre Ziele erreichen und welche Rolle spielen Digitalisierung und KI?
Lars Bohlmann: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind für uns wichtige Schlüssel, um Prozesse effizienter zu gestalten, Marktentwicklungen früh zu erkennen und neue Produkte schneller zur Marktreife zu bringen. Wir sehen KI nicht als Ersatz, sondern als Unterstützung, die unsere Innovationskraft verstärkt. Systeme und Technik sind dabei Werkzeuge – den entscheidenden Unterschied machen die Menschen. Der wahre Hebel liegt im Miteinander, im Vertrauen und in einer Kultur, die Zusammenarbeit stärkt. Technologie macht uns schneller und präziser. Aber zukunftsfähig werden wir nur durch Menschen, die sie verantwortungsvoll nutzen und gemeinsam gestalten. Idealerweise lässt sich das Zusammenspiel aus demografischem Wandel sowie Digitalisierung und KI nutzen, um einem potenziellen Fachkräftemangel in den kommenden Jahren vorausschauend zu begegnen.
Wie werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Transformationsprozess einbezogen?
Lars Bohlmann: Transformation gelingt nur gemeinsam. Deshalb setzen wir auf frühzeitige Information, Transparenz und Dialog. An Standorten, die sich verändern, eröffnen wir frühzeitig Perspektiven, von Qualifizierungsprogrammen bis hin zu Schnuppertagen in neuen Aufgabenfeldern. So schaffen wir die Voraussetzungen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen nicht nur Teil des Wandels sind, sondern ihn aktiv mitgestalten. Ein Beispiel dafür ist unsere KI-Initiative, bei der wir gezielt Proof of Concepts umsetzen und den Erfahrungsaustausch fördern. Im Fokus stehen sowohl alltagsnahe Tools, die viele Kolleginnen und Kollegen im täglichen Arbeiten unterstützen – etwa bei Texten, Übersetzungen oder Recherchen – als auch spezialisierte Anwendungen in einzelnen Bereichen. So nutzen wir zum Beispiel KI-gestützte Vorhersagen, die Bedarfs- und Logistikprognosen präziser machen, oder intelligente Lösungen im Kundenservice, die Teams entlasten und Antwortzeiten verkürzen. Wichtig ist uns dabei immer: Wissen teilen, voneinander lernen und Verantwortung gemeinsam tragen.
Inwiefern hat sich Ihre Führungs- und Unternehmenskultur diesen Veränderungsprozessen angepasst?
Lars Bohlmann: Unsere Unternehmenskultur basiert auf dem Prinzip „Many-to-Many“: Wir gestalten Veränderungen gemeinsam, auf Augenhöhe und über alle Ebenen hinweg. Gerade in Zeiten des Umbruchs ist es entscheidend, Vertrauen zu schaffen und Verantwortung gemeinsam zu tragen. Bei uns geht es nicht um Kontrolle, sondern um Vertrauen. Wir geben Freiräume und setzen auf Eigenverantwortung. Ein Beispiel dafür ist unser Programm „Spende dein Talent“: Kolleginnen und Kollegen bringen dabei ihre persönlichen Fähigkeiten ein, die zunächst nichts mit ihrer eigentlichen Rolle bei Hettich zu tun haben. So entstehen neue Formen der Zusammenarbeit, die Vernetzung fördern, Wissen teilen und echte Mehrwerte schaffen – für die Mitarbeitenden wie auch für das Unternehmen.
Menschen wollen gestalten – und genau das nutzen wir als Stärke. Dieses Many-to-Many-Modell hat sich über Jahre entwickelt und gibt uns heute Stabilität: Wir sind nicht mehr von einzelnen Personen abhängig, sondern verteilen Verantwortung breiter. Das stärkt die Identifikation und macht uns resilienter in Zeiten der Veränderung.
Als Familienunternehmen mit einer mehr als 100jährigen Geschichte mussten Sie schon oft auf veränderte Rahmenbedingungen und Märkte reagieren. Können Sie ein Beispiel eines gelungenen Transformationsprozesses aus der jüngeren Vergangenheit nennen?
Jana Schönfeld: Ein gutes Beispiel ist der Zusammenschluss mit dem italienischen Familienunternehmen FGV Anfang 2024. Damit haben wir nicht nur unser Portfolio erweitert, sondern auch unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Es zeigt, dass wir Veränderungen als Chance begreifen, unser Unternehmen neu auszurichten und für die Zukunft fit zu machen. Hier war uns von Anfang an wichtig, diesen Prozess als „Zusammenkommen” auf Augenhöhe und nicht als „Integration” zu verstehen, um von unseren gegenseitigen Stärken zu profitieren. Unser oberstes Ziel bleibt das Generationenwerk: Wir wollen das Unternehmen in die fünfte und darüber hinaus in die sechste und siebte Generation führen. Diese Langfristperspektive prägt unsere Entscheidungen – auch wenn sie kurzfristig herausfordernd sind.