Wie groß ist das Potenzial von KI für die Wirtschaft und wo steht die Region? Im Interview erläutern Aschot Hovemann, Abteilungsleiter Digital Engineering am Fraunhofer IEM, und sein Kollege Dr.-Ing. Christian Fechtelpeter, Teamleiter Strategie und Transfer, die Chancen dieser Technologie und ihre Einsatzmöglichkeiten.
Wenn heute von Künstlicher Intelligenz die Rede ist, was ist damit gemeint?
Aschot Hovemann: Künstliche Intelligenz ist ein Oberbegriff für Technologien, die Aufgaben übernehmen, für die bisher menschliches Denken notwendig war – etwa Mustererkennung, Entscheidungsfindung oder Prognosen. Man unterscheidet zwischen diskriminativer KI, die auf Basis vorhandener Daten Vorhersagen trifft (z. B. bei Qualitätskontrollen), und generativer KI, die neue Inhalte wie Texte oder Bilder erzeugt – wie ChatGPT.
KI ist längst in unserem Alltag angekommen: in Sprachassistenten, Übersetzungen, Produktempfehlungen oder der Routenplanung. Auch in der Industrie sorgt sie für effizientere Wartung, smarte Produktionsplanung oder automatisierte Dokumentation. Vor allem generative KI verändert die Interaktion mit digitalen Systemen grundlegend – durch natürliche Dialoge und neue Anwendungen in Engineering, Wissensarbeit und Service. Viele KI-Lösungen arbeiten unauffällig im Hintergrund, lernen laufend dazu und passen sich neuen Anforderungen an. Ihre Bedeutung wächst – hin zu intelligenten, unternehmensweiten Systemen.
Die Künstliche Intelligenz (KI) ist eine Schlüsseltechnologie mit weitreichenden Auswirkungen auf Unternehmen und Wirtschaft. Wo liegt das enorme Potenzial für die Wirtschaft?
Aschot Hovemann: Während Tech-Giganten wie Microsoft oder Google Milliarden in den Bau eigener KI-Modelle investieren, liegt für Industrieunternehmen der eigentliche Hebel woanders: im Einsatz statt im Eigenbau. Der größte Mehrwert entsteht nicht durch eigene KI-Modelle, sondern durch die smarte Integration von KI in bestehende Prozesse – von der Produktentwicklung über die Fertigung bis zum Kundenservice. In der Industrie lassen sich so Routineaufgaben automatisieren, Prozesse optimieren und Unternehmensdaten gezielt nutzen – etwa für vorausschauende Wartung, Variantenmanagement oder automatisierte Dokumentation. So entstehen produktivere Abläufe, höhere Qualität und geringere Kosten.
Besonders wertvoll ist KI dort, wo sie Transparenz schafft, Fehler verhindert und Ressourcen effizienter steuert. Sie ermöglicht individualisierte Produkte auch in kleinen Stückzahlen, neue datenbasierte Geschäftsmodelle wie Predictive Services oder Pay-per-Use – und verbessert die Steuerung ganzer Lieferketten. Nicht zuletzt unterstützt sie Unternehmen auf ihrem Weg zu mehr Nachhaltigkeit, etwa durch weniger Energie- und Materialeinsatz.
Wie sieht es in der Region aus und inwieweit schöpfen Unternehmen diese Chancen bereits aus?
ChristianFechtelpeter: Ich würde sagen: Wenn nicht hier, wo dann? OWL zählt in puncto KI im industriellen Einsatz tatsächlich zu den führenden Regionen Deutschlands. Mit dem Technologie-Netzwerk it’s OWL hat sich hier über mehr als ein Jahrzehnt ein starkes Innovationsökosystem entwickelt. Exzellente Forschungseinrichtungen, engagierte Unternehmen und eine ausgeprägte Kooperationskultur bilden das Fundament für zahlreiche erfolgreiche KI-Initiativen – von der Datenfabrik.NRW bis zum KI-Marktplatz oder dem neuen Leistungszentrum Engineering Automation. Und das zahlt sich aus: Viele Unternehmen in der Region nutzen KI bereits gezielt, um ihre Prozesse in Entwicklung, Produktion und Service zu optimieren. Gleichzeitig stellen wir aber auch fest, dass das Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist – sowohl bei technologischen Vorreitern als auch in der Breite des Mittelstands.
Woran liegt es, dass KI im Unternehmen bislang noch unzureichend genutzt wird?
Aschot Hovemann: Trotz wachsender Aufmerksamkeit tun sich viele Unternehmen weiterhin schwer damit, Künstliche Intelligenz flächendeckend einzusetzen. Einer der Hauptgründe: Es fehlt oft an Klarheit, wo und wie genau KI im eigenen Geschäft echten Mehrwert schaffen kann. Ohne eine fundierte KI-Strategie bleiben viele Initiativen im Pilotstatus – sie schaffen es nicht in den produktiven Betrieb. Hinzu kommen strukturelle Herausforderungen: Prozesse sind oft noch nicht ausreichend digitalisiert, Daten liegen verstreut vor, Schnittstellen fehlen. Auch die Integration in bestehende IT-Landschaften gestaltet sich schwierig. Gleichzeitig sind die nötigen Kompetenzen in den Bereichen Datenmanagement und Veränderungsmanagement knapp. Nicht zu unterschätzen sind auch kulturelle und rechtliche Hürden: Mitarbeitende begegnen KI-Anwendungen mit Skepsis, neue Regulierungen wie der EU AI Act sorgen für Unsicherheit. Was es jetzt braucht, ist gezielte Unterstützung: mehr Praxisbeispiele, besserer Wissenstransfer – und vor allem konkrete, umsetzbare Ansätze für den Mittelstand.
Aus Ihrer Erfahrung, wo sehen sie derzeit den größten Unterstützungsbedarf mit Blick auf die Anwendung von KI?
Christian Fechtelpeter: Unternehmen gezielt dort abzuholen, wo sie stehen – das ist Herausforderung und Chance zugleich. Wer ganz am Anfang ist, braucht vor allem Orientierung: Welche Potenziale bietet KI konkret für das eigene Geschäft? Wo lohnt es sich, anzusetzen? Hier helfen praxisnahe Impulse und ein gemeinsames Nachdenken über erste Anwendungsideen.
Unternehmen, die bereits erste Erfahrungen mit KI gesammelt haben, bekommen Unterstützung bei der Umsetzung – also bei der Entwicklung, Implementierung und Integration passgenauer Lösungen in bestehende Betriebs- und IT-Strukturen. Ebenso wichtig ist die strategische Planung: KI sollte gezielt dort eingesetzt werden, wo sie den größten Mehrwert liefert. Wie mein Kollege Aschot bereits betont hat, ist auch der Aufbau einer belastbaren Datenbasis ein zentrales Thema – viele Unternehmen unterschätzen, wie sehr der Erfolg von KI davon abhängt. Daneben braucht es Unterstützungsangebote beim Kompetenzaufbau im Team – etwa durch gezielte Trainings –, bei der Akzeptanzförderung in der Belegschaft und bei der Skalierung von Pilotprojekten in den laufenden Betrieb.
Wo ist der Einsatz von KI besonders vielversprechend?
Aschot Hovemann: KI entfaltet ihr größtes Potenzial überall dort, wo Daten, Wissen und Prozesse bislang ungenutzt bleiben oder manuell verarbeitet werden müssen. In der Produktion und Produktentwicklung hilft sie, Fehler frühzeitig zu erkennen, Simulationen zu unterstützen und wertvolles Know-how dauerhaft verfügbar zu machen.
Auch im Kundenservice und Wissensmanagement ermöglicht KI eine automatisierte Bearbeitung von Anfragen, die intelligente Auswertung großer Textmengen und die verständliche Aufbereitung relevanter Informationen. Komplexe Lieferketten, Prozesse und Ressourcen lassen sich dadurch flexibler, transparenter und nachhaltiger steuern. Kurz gesagt: KI schafft dort den größten Mehrwert, wo sie Wissen bewahrt, Mitarbeitende entlastet und datenbasierte Innovationen ermöglicht.
Die Region ist bekannt für ihr starkes Netzwerk. Wie können Kooperationen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft helfen, die Nutzung von KI voranzutreiben?
Christian Fechtelpeter: Kooperationen sind ein zentraler Erfolgsfaktor für die Umsetzung von KI – vor allem für Unternehmen, die Tempo und Komplexität technologischer Entwicklungen nicht allein bewältigen können. Genau hier setzt beispielsweise das neue Leistungszentrum Engineering Automation an: Es begleitet Unternehmen bei der Einführung von KI im Engineering – vom ersten Impuls über Use-Case-Workshops bis zur Integration intelligenter Assistenten in den Entwicklungsalltag. So automatisieren Unternehmen in ihrem Engineering Routinetätigkeiten, entwickeln mit intelligenten Assistenzsystemen, ermöglichen neue Designansätze und schaffen kreative Freiräume. Sie profitieren von passgenauer Unterstützung, die sich am individuellen Reifegrad orientiert.
Ein Highlight ist der GenAI-Incubator: Studierende entwickeln unter Anleitung der KI-Expertinnen und Experten des Fraunhofer IEM in kurzer Zeit praxisnahe Prototypen. Visionäre Unternehmen, kreative Talente und neueste Technologien treffen aufeinander, um gemeinsam innovative Lösungen zu schaffen. Interessierte Unternehmen können jederzeit einsteigen und gemeinsam mit Forschung und Nachwuchs neue Wege gehen.
Laut einer Bertelsmann-Studie suchen Unternehmen fast keine Fachkräfte mit KI-Know-how. Wo sehen Sie mögliche Gründe dafür?
Aschot Hovemann: Ein Grund, warum viele Unternehmen kaum gezielt nach KI-Fachkräften suchen, liegt in der Unsicherheit darüber, welche Kompetenzen sie tatsächlich benötigen. KI wird oft noch als reines IT-Thema gesehen – dabei betrifft sie nahezu alle Unternehmensbereiche. Hinzu kommt: Ohne klare KI-Strategie und Zielbild fällt es schwer, passende Rollen zu definieren oder Qualifikationen zu bewerten. Viele Firmen setzen zudem eher auf externe Lösungen statt auf eigenen Kompetenzaufbau. Dabei wird häufig unterschätzt, wie entscheidend internes KI-Know-how für langfristige Wettbewerbsfähigkeit ist.