Emissionen lassen sich nur managen, wenn man sie kennt. Doch in vielen Industrieunternehmen besteht der CO₂-Fußabdruck eines Produkts aus Annahmen und Standardwerten. Wie Miele im Rahmen des it’s OWL-Projekts „Climate bOWL“ belastbare CO2-Daten für einzelne Produkte ermitteln und damit den Fußabdruck sichtbar machen möchte.
Wenn Julian Wellerdiek über CO₂-Daten spricht, meint er selten die Emissionen, die im Gütersloher Miele Werk entstehen, sondern die Emissionen, die bereits in der Lieferkette der Miele Produkte verursacht wurden. Dort, wo meist die Datenlage dünn, die Transparenz gering und der Handlungsdruck hoch ist. „Viele Werte, die wir heute nutzen, basieren auf Standardwerten“, sagt der Nachhaltigkeitsexperte im Miele-Einkauf. „Aber wer seine Emissionen nicht kennt, kann sie auch nicht steuern.“
Wellerdieks Aufgabe ist es, Nachhaltigkeit systematisch in der Lieferkette zu verankern – ein Bereich, der in vielen Unternehmen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auch bei Miele ist die Lieferkette komplex: global, vielfältig, technisch anspruchsvoll.
„Eine Waschmaschine besteht aus hunderten Einzelteilen“, sagt Wellerdiek. „Damit wir fundierte Entscheidungen treffen können, müssen wir genau wissen, wie viel CO₂ in welchen Baugruppen steckt. Genau hier setzen wir an.“
Das Problem ist nicht neu, doch es wird akut. Entwicklungen in den Regulierungen wie CBAM und das EU-Emissionshandelssystem erhöhen den Druck auf Unternehmen, den CO₂-Fußabdruck ihrer Produkte transparent zu machen. Gleichzeitig fordern Kundinnen und Kunden detaillierte Nachweise. Wer diese nicht liefern kann, verliert künftig nicht nur Punkte beim Image, sondern vielleicht auch Aufträge.
Ein intelligentes System gegen den Flickenteppich
Was in der Theorie nach sauberem Datenmanagement klingt, ist in der Praxis oft ein Flickenteppich: Excel-Tabellen, verschiedene Datenbanken, CO₂-Schätzwerte aus öffentlichen Quellen. Genau deshalb arbeitet Miele im it’s OWL-Projekt Climate bOWL gemeinsam mit GEA, Phoenix Contact, NTT Data Business Solutions sowie den Universitäten Bielefeld und Paderborn an einem intelligenten System, das diese Herausforderungen löst und das den Product Carbon Footprint (PCF) auf Produktebene ermittelt. Damit können leichter Antworten auf die Fragen wie „Wie viel CO₂ steckt wirklich in der Waschmaschine?“ und „Wo entsteht es?“ gefunden werden. Die zentrale Idee dahinter: Weg von allgemeinen Durchschnittswerten, hin zu Primärdaten. Also Informationen direkt von den Lieferanten – etwa über Energieeinsatz, Materialien oder Transportwege. Nur so lässt sich aus der Näherung eine Bilanz machen und aus dem Gefühl eine belastbare Entscheidungsgrundlage.
Die Diskussionen um Nachhaltigkeit und Klimawandel, aber auch die zunehmenden Regulierungen stellen auch die Unternehmen vor die Herausforderung, die Produktentwicklung und den Herstellungsprozess ressourcenschonend zu gestalten. Um Klimaneutralität zu erreichen, braucht es jedoch eine ganzheitliche Herangehensweise, die eine präzise Bewertung der Treibhausgasemissionen (THGE) gewährleistet. Außerdem sind Maßnahmen zu identifizieren, die die Treibhausgase entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Unternehmen reduzieren.
Treibhausgasemissionen sindausgestoßene Gase, die zur Erderwärmung und dem Treibhausgaseffekt beitragen. Darunter fallen die Gase Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Lachgas (N2O) und Fluorierte Gase (F-Gase), die alle in den Carbon Footprint einberechnet werden. Der Großteil der THGE entsteht durch CO2 mit etwa 74 Prozent, 17 Prozent macht CH4 aus, wobei N2O und F-Gase einen kleineren Teil von etwa sechs und drei Prozent ausmachen. Circa 20 Prozent der globalen THGE trägt die Industrie und deren Prozesse bei. Neben Transport und Lieferwegen entstehen Treibhausgasemissionen bei der Gewinnung von Lithium, ein wichtiger Rohstoff für Batterien und Halbleiter, oder bei der Stahlproduktion.
Im „Climate bOWL“-Projekt wird zur THGE-Erfassung nicht nur auf das Produkt oder dessen Teilprodukte wie die Rohstoffgewinnung geschaut, sondern auch auf die Prozessebene wie die Herstellung oder Montage, um beispielsweise herauszufinden, wie viel THGE eine Produktionsanlage bei der Zusammensetzung zweier Teilprodukte verursacht. Je nach Produktionsanlage und -prozess laufen diese über fossile Brennstoffe, welche durch erneuerbare Energien ersetzt werden könnten. Die THGE-Analyse des intelligenten Assistenzsystems, das sich jede Wertschöpfungsstufe des Endprodukts anschaut, ermöglicht so ein Neudenken von vermeidbaren THGE.
Durch die integrierte Analyse der THGE-Verursacher in der eigenen Produktion und entlang der Wertschöpfungskette wird Unternehmen das Potenzial eröffnet, Energieeffizienzmaßnahmen entsprechend ihres ökologischen und ökonomischen Impacts ganzheitlich zu bewerten und einen strategischen Maßnahmenplan zur Einsparung von Treibhausgasemissionen abzuleiten.
CO₂-Fußabdruck verlässlich berechnen
Noch befindet sich das System bei Miele in der Testphase. „Das bisher größte Ergebnis des Projekts ist neben der Systemimplementierung die Konzeption einer normkonformen, standardisierten PCF-Ermittlung“, sagt Wellerdiek. Das heißt, Miele kann den CO₂-Fußabdruck seiner Produkte gemäß geltender Normen verlässlich berechnen. Konkrete CO₂-Einsparungen gebe es momentan noch nicht. Aber darauf komme es in dieser Projektphase auch nicht an, so der Nachhaltigkeitsexperte. Es gehe zunächst um Grundlagen und somit auch um die Fähigkeit, in Zukunft handeln zu können. Und es gehe um Digitalisierung. Denn ohne funktionierende Schnittstellen zu den ERP-Systemen eines Unternehmens lasse sich CO₂-Management nicht skalieren.
Besonders bei den sogenannten Scope 3-Emissionen, also den indirekten Emissionen entlang der Lieferkette, sei der Aufwand enorm. Und genau deshalb brauche es Systeme, die automatisieren, standardisieren, verbinden.
„Nachhaltigkeit braucht IT“, sagt Wellerdiek.
Miele ist kein Einzelfall. Die Herausforderungen, vor denen das Unternehmen steht, betreffen fast jede Branche mit komplexer Fertigung. Gerade Mittelständler, die lange mit Bauchgefühl und Erfahrungswerten gearbeitet haben, müssen sich nun neu aufstellen. „Was wir hier im Projekt entwickeln, kann und soll übertragbar sein“, sagt Wellerdiek. Die Projektergebnisse werden deshalb auf der Innovationsplattform von it’s OWL zur Verfügung gestellt.