Produkte müssen heute nicht mehr nur bestimmte Funktionalitäten erfüllen, sondern auch Forderungen nach Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit erfüllen. Wie Künstliche Intelligenz und Data Science dabei unterstützen können, zeigt ein Forschungsprojekt der Universität Paderborn.
Prof. Dr.-Ing. Iris Gräßler, Fachgruppe Produktentstehung am Heinz Nixdorf Institut (HNI) der Universität Paderborn, versucht es an einem einfachen Beispiel zu erklären. „Stellen wir uns ein Mountainbike mit Carbon-Gabel vor, das sportlich im Gelände gefahren und irgendwann ausrangiert wird. Kann ausgeschlossen werden, dass das Fahrrad einen schweren Sturz erlebt hat? Eine Carbon-Gabel müsste aufwendig untersucht werden, während eine Gabel aus Stahl viel einfacher wiederverwendet werden könnte.“
Denn im Gegensatz zu Stahl, bei dem Verformungen oder Risse meist direkt sichtbar oder leicht erkennbar sind, können in Carbon-Materialien Mikrorisse oder innere Strukturschäden entstehen, die das bloße Auge nicht erfassen kann. „Unser Ziel ist es, zukünftig das Fahrrad von Beginn an so zu gestalten, dass die Einzelteile einfach wiederverwendet werden können“, so Professorin Gräßler.
Was hier an einem „Alltagsprodukt“ erklärt wird, lässt sich auch auf technische Systeme, die komplex, interdisziplinär und miteinander vernetzt sind, übertragen. Auch hier gelte es die Forderungen nach Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit zu erfüllen, so die Wissenschaftlerin. Doch wie gelingt dies bei Produkten, die nicht nur heute, sondern auch in vielen Jahren den Prinzipien der nachhaltigen Ressourcennutzung gerecht werden sollen?
Bereits während der Entwicklung müssen Ingenieurinnen und Ingenieure Entscheidungen treffen, die den gesamten Lebenszyklus eines Produkts beeinflussen – von der ersten Idee über die Nutzung bis zur Rückführung. In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestarteten und von der Universität Paderborn geleiteten Schwerpunktprogramm „Hybride Entscheidungsunterstützung in der Produktentstehung“ sollen die komplexen Herausforderungen der Kreislaufwirtschaft, globaler Abhängigkeiten und der digitalen Transformation im Maschinen- und Anlagenbau gemeistert werden.
„In den Projekten erforschen wir, wie wir durch die systematische Einbeziehung von Daten und KI Herausforderungen im Bereich der Produktentstehung überwinden können.“
Eine besondere Schwierigkeit liegt in der Verfügbarkeit der auszuwertenden Daten. Diese liegen mitunter in sehr großen Mengen, in unterschiedlichen Formaten und Sprachen, von verschiedenen Quellen oder in lückenhafter Form vor. Ziel des Schwerpunktprogramms ist es, derart extreme Daten in Form von hybrider Entscheidungsunterstützung zu nutzen. „Data Science und KI sollen menschliche Fähigkeiten in etablierten Verfahren der Ingenieurwissenschaften erweitern. Mit den Erkenntnissen, die wir anstreben, soll es in Zukunft möglich sein, außer Betrieb genommene Produkte auf einem höchstmöglichen Zirkulariätsniveau in den Produktlebenszyklus zurückzuführen und Anforderungen an Produktionsstätten abzuleiten“, so Gräßler. Das Zirkularitätsniveau quantifiziert, wie effizient Ressourcen innerhalb eines geschlossenen Kreislaufs genutzt, wiederverwendet und recycelt werden, um Abfall zu minimieren und den Abbau neuer, endlicher Ressourcen zu reduzieren.
Wie bestehende Fähigkeiten in der Produktion bereits während der Entwicklung berücksichtigt werden können, damit beschäftigt sich das Projekt „DeCap“ – Fähigkeitsgerechte Produktentstehung“, das Teil des neuen Schwerpunktprogramms ist. Die Forschenden erfassen Daten aus dem Produktionsumfeld, werten diese automatisiert aus und leiten daraus Fähigkeitsprofile ab. Damit können Ingenieurinnen und Ingenieure zukünftig Produkte so entwickeln, dass diese nicht nur einmalig montiert, sondern auch demontiert und wiederverwendet werden können. Eine besondere Herausforderung stellt in diesem Forschungskontext die Demontage mit dem Ziel der Remontage dar, da es schwierig ist, den Produktzustand, konkrete Aufgaben und erforderliche Fähigkeiten vorab zu planen.