Nicht nur in der Logistik ist der Ruf nach mehr Resilienz in den letzten Jahren lauter geworden. Was das für die Wertschöpfungsketten bedeutet und warum auch der Gedanke der Regionalität diskutiert wird, erklärt Prof. Dr.-Ing. Thomas Wimmer, Vorsitzender des Vorstands der Bundesvereinigung Logistik (BVL).
Herr Professor Wimmer: Warum ist das Thema Resilienz seit einigen Jahren in vielen Bereichen des täglichen Lebens und in der Wirtschaft so bedeutsam geworden?
Thomas Wimmer: Seit dem Jahr 2020 erleben wir eine Serie von Krisen: COVID19-Pandemie, Russlands Angriff auf die Ukraine, Energiekrise, Fachkräftemangel und demografischer Wandel stellen die Verantwortlichen in den Wertschöpfungsketten ständig auf die Probe. Die Auswirkungen werden sogar in der Öffentlichkeit sichtbar, beispielsweise durch vorübergehend leere Regale in Supermärkten, lange Lieferzeiten bei Fahrrädern oder Baumaterialien oder die Halbleiter-Knappheit. Letztere hat dazu geführt, dass eine Vielzahl von Produkten nur schwer, zu hohen Preisen oder mit langen Wartezeiten verfügbar waren. Im Wirtschaftsbereich Logistik wird davon ausgegangen, dass sich Störungen auf ein deutlich höheres Niveau einschwingen werden, als wir es vor dem Jahr 2020 kannten. Um diesem Trend entgegenzuwirken, werden Wertschöpfungsketten ertüchtigt, um damit robust, stabil und trotzdem agil arbeiten zu können.
Was bedeutet mehr Resilienz für die Wertschöpfungsketten?
Thomas Wimmer: Mehr Zuverlässigkeit, mehr Verlässlichkeit, bessere Planbarkeit, um Störungen schnell und angemessen abfedern und den Betrieb bestmöglich aufrecht erhalten zu können. Um Resilienz, also Widerstandsfähigkeit auf mögliche, unerwartete Veränderungen bei Warenströmen zu ermöglichen, ist proaktives Handeln notwendig: Zunächst wird im Vorhinein überlegt, welche Störungen auftreten könnten und durch welche Maßnahmen deren negative Auswirkungen vermieden oder wenigstens vermindert werden. Dann werden daraus Standardprozesse abgeleitet, die im Falle unerwarteter Ereignisse Anwendung finden, weil sie sich in ähnlichen Fällen schon bewährt haben und die Unternehmensorganisation darauf trainiert ist. Das klingt einfach und ist logisch. Allerdings wurde in der jüngsten Auflage der BVL-Studie „Trends und Strategien in Logistik und Supply Chain Management“ festgestellt, dass nicht einmal in jedem fünften der antwortenden Unternehmen ein gemeinsames Verständnis oder eine Definition von Resilienz vorhanden ist.
Wo genau liegen die Möglichkeiten für Unternehmen ihre eigenen Wertschöpfungsketten resilienter zu machen und welche Methoden bzw. Instrumente stehen zur Verfügung?
Thomas Wimmer: Beginnend bei der Vertragsgestaltung über die Informationsflüsse hin zu den Materialflüssen und zur Kommunikation miteinander. Um Risiken oder gar Störungen zu erkennen, zu bewerten und vor allem schnell darauf reagieren zu können, muss bekannt sein, was wo in einer Lieferkette passiert, wer ein Teil davon ist und in welcher Situation oder in welchem Zustand sich die Glieder der Kette befinden. Größtmögliche Transparenz zu schaffen, ist eine Kernmaßnahme. Diese lässt sich aber nur erreichen, wenn alle Beteiligten eng zusammenarbeiten und relevante Daten in Echtzeit miteinander teilen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg ist sehr wichtig.
Dabei hilft Digitalisierung. Über standardisierte Schnittstellen können Daten der Beteiligten in einen „Virtual Watch Tower“ einfließen, wo sie anhand von Algorithmen analysiert und schnell zu Warnungen, Hinweisen, Handlungs- und Optimierungsvorschlägen verarbeitet werden. Eine analoge Möglichkeit für mehr Resilienz ist das Dual Sourcing, bei dem man sich nicht nur auf einen Lieferanten verlässt, sondern die Möglichkeit schafft, Güter oder Waren auch aus weiteren Quellen beschaffen zu können. Das ist besonders von Bedeutung, wenn Lieferanten in einer Region ansässig sind, die geopolitisch oder auch mit Blick auf Naturkatastrophen riskant ist. Zusätzlich können höhere Lagerbestände oder eine flexible Produktion helfen, kurzfristige Engpässe zu überbrücken. Und auch vertrauensvolle und langfristige Wertschöpfungspartnerschaften wirken sich positiv auf die Resilienz von Lieferketten aus. Mit kurzfristigen Verträgen können oftmals günstigere Beschaffungskosten realisiert werden, aber die Störungsrisiken sind deutlich höher.
Ist mehr Resilienz in der Lieferfähigkeit auch mit einer Kostensteigerung verbunden?
Thomas Wimmer: Ja, denn für die Prozessanalyse und -gestaltung und für Digitalisierung sind Investitionen notwendig. Dem entgegen stehen verminderte Kosten vor allem für Sondermaßnahmen, Sondertransporte, Malus-Regelungen, Pönalen oder sinkende Kundenzufriedenheit. Mehr Resilienz verursacht – ebenso wie auch mehr Nachhaltigkeit – höhere Kosten und führt zu höheren Preisen, die aber vielfach in den Märkten nicht akzeptiert werden. Ein echtes Dilemma. Der Kostendruck gehört im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit nach wie vor zu den zentralen Trends.
Wenn aber Digitalisierung, Resilienz und Nachhaltigkeit Kerneigenschaften zukünftiger Lieferketten sind, stehen diese in Wechselwirkungen zueinander. Unternehmen, die dies in ihrer Strategie, Organisation und in der Gesamtkostenrechnung berücksichtigen, können positive Effekte erzielen, nämlich Zuverlässigkeit erhöhen, Kosten reduzieren und neue Erlösquellen finden. Wer hingegen jetzt nichts tut, wird am Ende deutlich höheren Folgekosten gegenüberstehen oder im Wettbewerb zurückfallen. Gefragt sind Mut und Innovationskraft.
Warum setzt der Wirtschaftsbereich Logistik vor dem Hintergrund geopolitischer Herausforderungen bei der Gestaltung der Wertschöpfungsketten nicht stärker auf die Regionalisierung?
Thomas Wimmer: Mehr als 60 Prozent der Antwortenden in der BVL-Studie bezeichneten Regionalisierung als einen guten Weg zu mehr Resilienz. Bislang wurde aber deutlich weniger regionalisiert als erwartet. Der Faktorkosten-Unterschied zwischen Europa und Asien ist sehr hoch. Somit ist die Globalisierung kein Selbstzweck, sondern eine aus betriebs- und volkswirtschaftlichen Anforderungen entwickelte Form der Arbeitsteilung. Im Gegenzug bergen Regionen, in denen die Warenbeschaffung besonders günstig oder die notwendigen Rohstoffe hinreichend verfügbar sind, oftmals Risiken: Mangelhafte Infrastruktur, instabile Prozesse in der Administration des Warenverkehrs, Mehraufwand für Qualitätssicherung und mehr. Und trotzdem wurden dort signifikante Kernkompetenzen entwickelt, so dass Veränderungen in Wertschöpfungsketten kurz- und mittelfristig kaum möglich sind, jedenfalls nicht zu vertretbaren Kosten. Beispiele sind Halbleiter und Computerchips, oder Arzneimittel.
Es ist zu erwarten, dass vermehrt kleinere regionale Netzwerke für bestimmte Komponenten oder Teilesets entstehen, die weiterhin global miteinander verbunden sind. Auch diese können durch lokale Risikoereignisse wie Überschwemmungen, Stürme oder Bergrutsche unterbrochen werden. Dem ließe sich mit geographischer Diversifizierung begegnen, mit Ansätzen des Dual- und Cross-Sourcing. Der Grundsatz sollte stets lauten: So autonom wie notwendig und so offen, global und marktorientiert wie möglich.