Der Druck auf den Mittelstand ist groß: neue Technologien, der Klimawandel, internationaler Wettbewerb und Fachkräftemangel. Wie lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit erhalten? Antworten lieferte die Hinterland of Things-Konferenz, die sich wieder einmal als Impulsgeber und Mutmacher präsentierte.
Patrick Kölsch ist hoch erfreut. Er ist zum ersten Mal in Bielefeld auf der Hinterland of Things-Konferenz. Vom Konzept ist er ziemlich begeistert. „Ich habe schon viele Startup-Events besucht. Das, was ich hier erlebe, ist absoluter Wahnsinn“, so der Gründer aus Rheinland-Pfalz, der neue Kontakte auch in die Investorenszene knüpfen konnte. Kölsch ist CEO des Startups greenable. Zusammen mit seinen drei Mitgründern hat er eine Softwarelösung für den produzierenden Mittelstand entwickelt, mit deren Unterstützung Betriebe ihren Product Carbon Footprint ermitteln können. Das Gründer-Quartett versteht die Herausforderungen kleiner und mittelständischer Unternehmen, sie haben selbst Erfahrungen dort gesammelt. „Nachhaltig zu wirtschaften und digitale Strukturen umzusetzen, ist ein Kraftakt. Unsere Software unterstützt, einfach und schnell die CO2-Bilanzierung durchzuführen. Die Eintrittsschwelle ist sehr niedrig“, beschreibt der Jungunternehmer das Geschäftsmodell.
Kölsch ist hier nicht der einzige Startup-Vertreter, gut einhundert technologieorientierte Gründerinnen und Gründer bekommen in diesem Jahr eine Plattform auf der Hinterland, die erstmals in der Bielefelder Stadthalle Startups, Familienunternehmen und Investoren zusammenbrachte. Dominik Gross, Geschäftsführer der Founders Foundation und Veranstalter der mittlerweile sechsten Hinterland, ist mächtig stolz.
„Ich freue mich, dass sich hier so viele junge Startups präsentieren können. Sie brauchen einen Raum, um sich zu zeigen. Wenn wir vom Brückenbau zwischen Startups und etablierten Unternehmen, vom Zusammenbringen beider Welten sprechen, dann braucht es diese Bühne.“
Dominik Gross, Geschäftsführer der Founders Foundation und Veranstalter der mittlerweile sechsten Hinterland.
Dass junge, technologieorientierte Gründerinnen und Gründer zusammenfinden, kooperieren und gemeinsam an Lösungen für die großen Herausforderungen arbeiten, ist heute existenziell. „Wir müssen beyond Krise denken, schneller umdenken, Chancen sehen und umsetzen, nur so finden wir Antworten auf die großen Fragen wie Klimawandel, Energiekrise, Fachkräftemangel. Dazu benötigen wir Technologien, wie die Künstliche Intelligenz. Startups können hier helfen und den Mittelstand unterstützen, wettbewerbsfähig zu bleiben“, so Gross. Das sieht auch Startup-Präsidentin Verena Pausder so. Die gebürtige Bielefelderin, die noch vor gut 20 Jahren ihre Heimatstadt eher nicht als den „Place to be“ bezeichnete, ist begeistert von der Entwicklung in den vergangenen Jahren.Im Hinterland sei jetzt richtig etwas los. „Wir brauchen mehr Zuversicht“, gibt sie den zahlreich erschienenen Mittelständlern mit auf den Weg: „In diesem Land haben wir alle Zutaten, die es braucht, um erfolgreich zu sein“, so die engagierte Unternehmerin, die überzeugt ist, dass wir weiterhin Weltklasse made in Germany können.
Gülsah Wilke von DN Capital und Brigitte Mohn, Bertelsmann Stiftung (r.), diskutierten über die Förderung des Innovationspotenzials einer lebendigen und vielfältigen Gesellschaft.
Dazu müsse jedoch die Gründerszene weiter ausgebaut, die Zahl der Ausgründungen aus den Hochschulen vorangetrieben werden. Privates Kapital gebe es genug. „Es ist an der Zeit, den Föderalismus des Landes zu nutzen, um mehr Power Hubs in der Fläche zu bauen“, so Pausder. Außerdem brauche es ein „Choose Germany-Programm“, um Gründende und Fachkräfte für den Standort Deutschland zu begeistern. Die geplanten digitalen Visa-Verfahren seien der richtige Weg.
Die Chance der dezentralen Wirtschaft betont auch Dominik Gross. 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts würden außerhalb der zehn größten Städte gebildet. „In der Fläche sind viele Weltmarktführer ansässig, die Industrien weltweit mit technischen Lösungen ausstatten, die elementar für funktionierende Fabriken sind. Deutschland ist ein Industry Powerhouse“, so Gross.
Aktuellen Handlungsbedarf sieht Pausder bei den sogenannten Deep Tech-Technologien. Hier seien noch dicke Bretter zu bohren. Eine Aufgabe, die nur Mittelstand und Startups gemeinsam bewältigen könnten. Auch Dominik Gross sieht hier enormes Potenzial: „Ohne Startups hat Deutschlands Wirtschaft keine gute Zukunft. Nur durch den Technologietransfer aus den heimischen Startups bleiben unsere Unternehmen Weltspitze. NRW ist das sich am schnellsten entwickelnde Startup-Ökosystem Deutschlands. Schon die Top 24 of 2024-Liste zeigt, wie vielfältig das Potenzial ist. Dass das beste NRW-Startup aus unserer Region Ostwestfalen-Lippe kommt, macht uns besonders stolz.”
Familienunternehmen bieten Startups ein reales Umfeld, um ihre Innovationen weiterzuentwickeln.
Einige Mittelständler in der Region haben die Signale schon vor einigen Jahren erkannt und die Nähe zur Startupszene gesucht. Familienunternehmer Wilhelm Böllhoff war dazu nicht im Silicon Valley unterwegs, um sich inspirieren zu lassen, wie er erklärt:
„Ich habe das ostwestfälische Hinterland für mich entdeckt. Der Impuls kam von der Founders Foundation. Unsere damalige Motivation war, wie bringen wir den Unternehmergeist für kleine digitale Lösungen in unser Unternehmen.“
Die Kontaktaufnahme mit der Gründerschmiede hat Spuren hinterlassen. So gibt es seit langem ein kleines Team, das die interne Digitalisierung voranbringt, um die Effizienz zu steigern. Wenn es um neue Ansätze wie die digitale Ausrichtung des Geschäftsmodells selber geht, dann strecken die Bielefelder ihre Fühler nach außen aus, um hier nach Unterstützung zu suchen. Der Spezialist für Verbindungslösungen hat sogar eine Venture Capital Gesellschaft gegründet, mit der er sich an B2B-Startups beteiligt. Grund für diesen Schritt: schneller an Lösungen zu gelangen, die die Digitalisierung der Prozesse vorantreiben, erklärt der Böllhoff-Chef. Und auch über Erfahrung in der Gründerszene verfügt das 1877 entstandene Unternehmen, das ein Startup mitgegründet hat, dessen Geschäftsmodell es ist, Unternehmen AI-gesteuerte Software anzubieten, die über die Eingabe konkreter Fragemöglichkeiten sehr schnell zum Ergebnis führt.
Kontakte in die Startupszene hält auch WAGO. Heiner Lang, CEO des Mindener Familienunternehmens, engagiert sich seit seinem Eintritt in die Geschäftsführung vor gut zwei Jahren für eine stärkere Öffnung nach außen. Es habe eine Menge Pionier- und Gründergeist gegeben, der jedoch nach innen gerichtet gewesen sei. Mittlerweile suche man gezielt die Nähe zu Gründern für all die Themen, „wo wir uns etwas schwerer tun“, so Lang.
Auch der Bielefelder Hemdenproduzent Seidensticker weiß die Zusammenarbeit mit Startups zu schätzen, wenn es um die Entwicklung neuer Ideen geht: „Wir treten konkret in gemeinsame Projekte ein“, sagt Geschäftsführer Frank Seidensticker. Kontinuität sei seit Gründung des Familienunternehmens durch seinen Großvater ein wichtiger Wert. Gleichzeitig aber auch die Bereitschaft, angesichts des rasanten Wandels, sich ständig zu hinterfragen. Innovationen zu schaffen, ist für Jan-Hendrik Goldbeck konsequente Arbeit, die auch mit Hilfe von aufstrebenden Startups zum Erfolg führe.
„Man bricht sich keinen Zacken aus der Krone, eine coole Idee von anderen anzunehmen“, so der Bauunternehmer.
Während der Mittelstand die Fähigkeit habe, sich mit der Marktrealität zu konfrontieren, fehle vielen Startups diese Kompetenz. „Wenn es uns gelingt, die Ideen der Startup-Welt mit den ernsthaften Problemen der Mittelständler zusammenzubringen, dann profitieren beide Seiten. Die Startups werden realitätssicher und können ihr Produkt monetarisieren, weil es ernsthaft gebraucht wird und uns weiterbringt, denn wir haben eine Lösung gefunden“, ist der Bielefelder überzeugt.
Ein wichtiger Partner können Startups auch beim Einstieg etablierter Unternehmen in KI-Technologien sein. Kein Wunder, dass Künstliche Intelligenz ein dominantes Thema der Konferenz war: Bereits heute könne KI alltägliche Produkte durch intelligente Alternativen ersetzen. Daniel Khachab, Gründer von Choco, sieht dabei ein besonders großes Potenzial der KI in der Digitalisierung alter Industrien.
Doch hier ist noch einiges zu tun. Die deutsche Industrie ist laut Institut der Deutschen Wirtschaft zwar Vorreiter, jedes zweite Unternehmen setzt mittlerweile KI-Tools ein. Der Blick auf die gesamte Wirtschaft mit einer Quote von 17 Prozent zeigt jedoch dasungenutzte Potenzial auf.
Wie junge Unternehmen mit ihrem Know-how helfen können, Daten effizienter zu nutzen, zeigt zum Beispiel heyData. Das Startup hat eine End-to-End-Lösung entwickelt, die ein smartes GDPR-Managementsystem mit einem Compliance-Framework kombiniert. Der Hausgerätehersteller Miele ist da schon weiter. IT-Spezialist und Informatiker Florian Nielsen erklärte auf der Hinterland-Bühne, wie die Gütersloher KI einsetzen und wie sie mit deren Hilfe einen Mehrwert generieren. Dabei gehe es nicht nur darum, den Umsatz zu steigern, sondern auch, wie sich Produkte kreieren lassen, die die Kundenbedürfnisse besser beantworten können.
„Das Thema Premium-Qualität verändert sich, es wird digitaler. Uns ist es wichtig, einen Differenzierungsfaktor für uns und für die Kunden zu schaffen.“
Schon 2015 brachte das Familienunternehmen ein Kochfeld mit KI-Technologie auf den Markt. Seit vier Jahren gibt es den erkennenden Backofen, der beim Erreichen des richtigen Bräunungsgrads von Croissants und anderen Backwaren eine Push-Nachricht versendet und den Ofen herunterregelt, während man selbst in Ruhe auf dem Sofa sitzen bleiben kann und das Gebäck dann aus dem Gerät herausholt, wann man möchte. An welchen aktuellen Themen im Hause Miele zurzeit getüftelt wird, verriet Nielsen zwar nicht, gab aber auch zu, dass die Integration von KI in die Prozesse eine komplexe Herausforderung ist. Für ihn ist diese kein reines Data Science-Problem, sondern vielmehr eine Hardcore-Engineering-Aufgabe. „Die Komplexität unserer Geräte ist enorm. Neben Elektronik und Software gibt es Vernetzungsschnittstellen, Data Science-Plattformen, in der Cloud befindet sich der Cloudservice. Dieses alles miteinander zu koordinieren, ist etwas Großes. Außerdem müssen wir sicherstellen, wie sich die Geräte-Modelle trainieren und updaten lassen. Und nicht zuletzt gilt es zu klären, wie neue Automations-Programme auf die Geräte gelangen.“ Da sei eine Menge Software im Spiel, ergänzt um KI als wertbringender Wert. Deshalb müsse man diese Herausforderung als cross-funktionales Thema angehen, bei der IT-Spezialisten und Softwareentwickler sowie KI-Engineers zusammenarbeiten.
Hochmotiviert zeigten sich an diesem Tag viele weitere Akteure, inspiriert von den zahlreichen Gesprächen und neuen Kontakten. Die Hinterland hat auch in diesem Jahr Zeichen gesetzt und Entwicklungen angestoßen, die nachhaltig ihre Wirkung entfalten. Es ging um Emotionen und Empowerment, aber auch um rationale Impulse. Denn das Event ist auch eine „Deal-Making-Conference“. „Das ist Teil des Konzepts und wir wissen, dass in den letzten Jahren hier immer wieder auch Kooperationen ihren Anfang genommen haben. So gab es einen Gründer, der beim Anstehen am Eisstand einen Business-Angel kennenlernte. Beim Essen von Stracciatella-Eis wurde so die Basis für ein Investment gelegt. Ein anderes Startup kam zufällig mit einem Maschinenbauer in Kontakt, aus dem sich eine erfolgreiche Kooperation ergab. Wir sind gespannt, was von dieser Veranstaltung ausgeht und in den nächsten Wochen und Monaten sichtbar wird.“
Apropos Erfolg: Das Startup Synctive (Foto) wurde auf der Konferenz bei der Verleihung des OUT OF THE BOX.NRW Awards vom NRW-Wirtschaftsministerium mit dem ersten Platz ausgezeichnet und gehört damit zu den besten digitalen Startups in NRW. Die Bielefelder haben einen ganzheitlichen Ansatz für die Wartung von Industrieanlagen entwickelt.