ARBEIT NEU DENKEN

Den Menschen und seine Qualitäten in den Vordergrund rücken

Die Arbeitswelt ist unsicherer geworden. Die Belastungen nehmen zu und führen zu Ängsten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Warum wir Arbeit neu denken müssen, um auch in Zukunft erfolgreich arbeiten und wirtschaften zu können.

Jana Schmidt ist Projektleiterin in einer IT-Unternehmensberatung. Die letzten Monate waren hart. Kunden verschieben geplante Projekte aufgrund der unsicheren wirtschaftlichen Lage. Bei einigen aktuellen Aufträgen geht es nicht voran, weil die Beratung Softwareentwickler benötigt, die sie am Markt nicht findet. „Die Lage ist schwierig und der Druck enorm gewachsen. Das Management erwartet gute Ergebnisse, neue Aufträge und Umsatz“, sagt die junge Frau. Die Belastungen im Job gehen auch an ihr nicht spurlos vorbei. Schlafstörungen und die Angst, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein, treiben sie täglich um. Mittlerweile trägt sie sich mit dem Gedanken, zu kündigen.

Dies ist kein Einzelfall. In vielen Unternehmen sind die Menschen am Limit: Zeitdruck, Hektik, ständige Krisenabwehr, Meetings, Problemlösen im Dauertakt. Das gilt längst nicht nur für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch für die Geschäftsführung. Einer Studie des Meinungsforschungsunternehmens Civey zufolge geben gut 60 Prozent der Führungskräfte an, erschöpft zu sein.

„Die Überbelastung in unserer schnelllebigen Zeit ist besorgniserregend. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der psychischen Erkrankungen auf einen Höchststand gestiegen“, sagt Lasse Rheingans. Der Experte für Digitalisierung, New Work, Organisationsentwicklung und Kultur ist alarmiert. „Ich beobachte in der Wirtschaft eine riesige Unsicherheit in vielerlei Hinsicht. In dieser Situation greifen viele Führungskräfte dann auf alte Rezepte zurück und raten zu dem, was sie kennen, weil es hier vermeintlich Sicherheit gebe. Mit der Folge, dass oftmals die alte toxische Führungskultur wieder Einzug hält und das Gegenteil von dem bewirkt, was erreicht werden soll.“

Die Mitarbeitenden würden klein gemacht, in ihrer Motivation demotiviert und ihnen geraten, dass zu tun, was der Chef sage. Diese Art des Führens habe jedoch ausgedient, weil der Vorgesetzte nicht alles wisse, denn die Arbeitskontexte seien alles andere als simpel. Viel zielführender seien Perspektivenvielfalt und ein gutes Miteinander, so Rheingans, der 2017 eine Bielefelder Agentur übernommen hat und damals noch dachte, mit der Digitalisierung den Mittelstand retten zu können. Heute berät er Unternehmen zu den Themen Arbeitszeitverbesserung und Arbeitsmodelle und plädiert für einen Kulturwandel, für eine gesunde Führung und ein gesundes Miteinander. Von New Work würden alle profitieren, denn hier gehe es darum, „dass alle Mitarbeitenden die Arbeit ausüben, die sie wirklich wollen und die alle stärkt. Unternehmen, die sich nicht mit einer neuen Arbeitswelt beschäftigen, lassen Potenziale und Zukunftschancen ungenutzt“, ist Rheingans überzeugt.

Der Unternehmer kann nicht nachvollziehen, warum so viele Verantwortliche in Zeiten multipler Krisen daherkommen und ihren Mitarbeitenden zu verstehen geben, „stellt euch mal nicht so an, nehmt euch mal nicht so ernst“. Rheingans sieht darin ein Ablenkungsmanöver. Die vielen Unsicherheiten würden als Vorwand genutzt, um sich nicht um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Wohlbefinden zu kümmern. Dabei sind sie gesetzlich verpflichtet, eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und zu schauen, wie es ihnen geht.

Während die Unternehmen beim Thema Arbeitsschutz ihrer Pflicht nachkommen würden, sei im Hinblick auf psychische Belastungen, die durch Termindruck, emotionalen Stress und Überstunden entstünden, noch viel Luft nach oben, so Rheingans. Dabei müsse es doch im unternehmerischen Interesse sein, die psychische Gesundheit zu fördern, damit Menschen den besten Job ihres Lebens machen könnten. Das gelinge nur, wenn es ihnen gut gehe. Dann könnten sie ihre Stärken ausspielen, sozial interagieren und kreativ sein. „Viele Unternehmer haben nicht verstanden, dass dies ein wichtiger Aspekt ist, der darüber entscheiden kann, ob Menschen den Betrieb verlassen oder gar nicht erst kommen. Wenn sie merken, dass sie mit ihren Bedürfnissen und ihrer Gesundheit nicht ernst genommen werden, ist die Gefahr groß, dass sie sich einen neuen Job suchen.“ 

Auf die Gesundheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat nicht nur die direkte Arbeit Einfluss. Die Doppelbelastung in vielen Familien ist auch ein Faktor, der Unternehmen berühren sollte, ist der Visionär sicher. Beschäftigte müssten Rücksicht und Akzeptanz erwarten können, wenn das Kind krank ist und der Mitarbeiter zu Hause bleibe. Noch immer mangele es an Verständnis für private Sorgen und Probleme, von Rücksichtnahme sei oftmals nichts zu spüren. „Das Risiko ist groß, dass Unternehmen die besten Leute verlieren, weil sie sich zu wenig um deren Bedürfnisse kümmern. Angesichts des Fachkräftemangels, dessen Existenz schon seit gut 50 Jahren bekannt ist, sehe ich hier ein riesiges Problem. Den Ernst der Lage haben viele weggelacht. Die wenigsten bemühen sich ernsthaft. Ich sehe auf Geschäftsführerebene und in den Personalabteilungen keine vernünftigen Strategien, wie man der Herausforderung begegnen will. Bei vielen herrscht die Meinung vor, das betrifft uns nicht, weil wir eine starke Marke sind und bisher immer genügend Bewerbungen erhalten haben“, so Rheingans.

Die Gründe für diesen Mangel an Aktivitäten sieht der New Work-Experte in den verschiedenen Sprachen, die in der Führungsetage und in der Personalabteilung gesprochen würden. Hier träfen die menschlich-empathische und die rationale Ebene zusammen. Während die Unternehmenslenker nur in Kennzahlen und Belohnungssystemen denken und an Modellen festhalten, die Planbarkeit suggerieren, zeigten die Personaler Verständnis für die Belange der Beschäftigten. „Kennzahlen sind für sie eher unwichtig, weil sie verstanden haben, dass in einer Welt, in der nichts mehr planbar ist, diese völlig fehl am Platz sind.“

Rheingans legt nicht nur den Finger in die Wunde, er hat auch konkrete Vorschläge und plädiert für eine maximale Agilität in den Unternehmen, in denen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kenntnis über die Ziele haben und wissen, wohin die Reise geht. Nur dann können sie in ihrem Arbeitsbereich verantwortungsvoll handeln.  „Ich beobachte immer wieder, wie Mittelständler erklären, sie wollten selbstorganisiert arbeiten, um schneller zu werden. Fragt man sie, ob allen Beschäftigten die Strategie bekannt ist, reden sie sich heraus. Nicht jeder dürfe über alle Informationen verfügen, zu groß die Gefahr, dass Unternehmensgeheimnisse bei einer Kündigung verraten würden“, so der New Work-Experte. Rheingans betrachtet diese Situation als ein großes Dilemma. Wenn Mitarbeitende nicht auch selbst Entscheidungen treffen dürften, verlangsamten sich die Prozesse, weil zu viel Zeit verstreiche, bis auf oberster Ebene ein Entschluss falle und deren Ergebnisse an die Beschäftigten gelangten. Mit der Konsequenz, Produkte kommen zu spät und teilweise veraltet auf den Markt. 

Der Arbeitsexperte plädiert dafür, den besten Raum zu schaffen, in dem die produktivste und kreativste Arbeit möglich ist. „Wir müssen Wege finden, um die Produktivität trotz reduzierter Ressourcen aufrechtzuerhalten. Die Digitalisierung kann hier helfen, dass der Mensch und seine Qualitäten in den Vordergrund rücken“, sagt der Digitalisierungsexperte. Denn durch schlaue Prozesse lasse sich die Produktivität steigern. KI sei ein weiteres Instrument, um in weniger Zeit das Gleiche zu schaffen und Freiräume für Erholung, soziales Engagement oder Weiterbildung zu öffnen. Visionär Rheingans weiß, wovon er spricht. Vor sieben Jahren hat er wohlüberlegt in seinem Unternehmen den Fünf-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich eingeführt. Sehr zur Freude seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die heute fokussierter, motivierter und glücklicher arbeiten. 

Manche haben ihn für verrückt erklärt, Nachahmer gibt es nur wenige. Das stört ihn wenig, denn Rheingans ist überzeugt, dass verkürzte Arbeitszeiten ein Trend der Zukunft sind. „Die Vier-Tage-Woche ist ein riesiger Trend. Ich gehe fest davon aus, dass wir sie in fünf Jahren überall haben werden, weil irgendein Mitbewerber im Kampf um Fachkräfte damit anfängt und andere nachziehen“, beschreibt Rheingans. Der weitsichtige Unternehmer erwartet künftig noch weitere Experimente bei Arbeitszeitmodellen, die dazu beitragen sollen, dass Mitarbeitende Arbeit und Leben besser miteinander in Einklang bringen können, zufriedener sind. „Produktivität und Wertschöpfung erfolgen nicht unbedingt durch acht Stunden Präsenz am Schreibtisch“, weiß Rheingans aus eigener Erfahrung.

Sein Verständnis von Arbeit und Arbeitszeiten hat auch außerhalb Deutschlands Begeisterung ausgelöst. So schrieb die New York Times: „In einer Welt, die so verrückt ist wie unsere, die auch nicht wieder simpler wird wie früher, da ist nicht Lasse Rheingans verrückt, sondern die Firmen, die sich nicht trauen, solche Experimente zu machen.“

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